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Horst (A. O.), der Schülerzeitungsredakteur, appellierte an die unpolitische Jugend Wolfsburg: „Motz! Motz! Motz!“

Zeiten des Aufruhrs?

Aufführung des dsp51-Kurses auf der Hinterbühne im Scharoun-Theater

Was bedeutet es, in den 1960ern gelebt zu haben? Bekannt ist diese Zeit als Jahrzehnt der Umbrüche, doch wie muss man sich den Lebensalltag, das ganz normale Hier und Jetzt vorstellen? Herrschte Aufbruchsstimmung? Oder Übereifer? Oder vielleicht passierte doch nichts und einzig eine Minderheit prägt unser historisches Bild?

All diese Fragen beantwortete die am 16.04.2024 auf der Hinterbühne des Scharoun Theaters vor 200 geladenen Zuschauern uraufgeführte szenische Performance „Stadtgeschichten – Zeiten des Aufruhrs” aus der Feder und unter Regie von Jürgen Beck-Rebholz, Leiter des Jungen Theaters, … nicht. Vielmehr sollten dies die Zuschauenden selbst entscheiden, indem sie das Stück verfolgten. Aufgeführt wurde es von THG-SchülerInnen des Darstellenden-Spiel-Kurses des 12. Jahrgangs, mit Unterstützung des Stadtarchivs und der Tanzchoreografin Britta Rollar-Lemme und Jürgen Beck-Rebholz, welche die Einzelaufführung seit Beginn des Schuljahrs vorbereitet hatten.

Unterschiedliche Meinungen zu den Straßenkämpfen in Berlin

Das Stück basierte teilweise auf Artikeln der Originalschülerzeitungen „Florett“ des THGs und „Diagonale“ des Ratsgymnasiums aus den 1960er Jahren, die Aleksandar Nedelkovski im Stadtarchiv bereitgestellt hatte. So konnte das Alltagsleben, wichtige politische Ereignisse, ja, die ganze Atmosphäre dieser wilden Zeit rekonstruiert werden: ein (erdachter) Prozess gegen zwei Wächter eines Konzentrationslagers fand ebenso Platz wie der Wunsch normaler Wolfsburger Jugendliche nach mehr Freiheit oder das erdrückende Schweigen der Elterngeneration über die Kriegsvergangenheit. Die Szenen springen vom überraschenden Mauerbau in Berlin über nervende Schulalltagsroutinen zu heftigen politischen Diskussionen und hängen nicht zusammen, sind mal lang, mal mit todernsten Unterton, der kein Räuspern duldet, mal mit augenzwinkernder Leichtigkeit, die zum Mitlachen einlädt. Immer wieder wurden Tänze dieser Zeit eingeschoben, um die Stimmung aufzulockern und Schwung in das Stück zu bringen. Den fliegenden Wechsel zwischen Ernst, Ironie und den uns heutzutage etwas lächerlich-komisch anmutenden Tänzen spiegelte den Facettenreichtum der 60er Jahre wider – und ihre Unsicherheit.

Das minimalistische Bühnenbild wurde zum Leben erweckt

Das Bühnenbild war minimalistisch ausgefallen, drei mal drei Tische, alle Spielenden permanent auf der Bühne, überwiegend in schwarz-weiß, nur O. L. als Hippie und Pseudo-Dichter mit Stirnband und Joint stach buntbekleidet hervor. Einzeln oder in Gruppen standen die Spielenden auf oder sprangen plötzlich wutentbrannt auf ihren Tisch. Das Licht der Profi-Lichttechniker des Scharoun Theaters wurde dazu in vielfältiger Weise genutzt, mal weiß, mal farbig, mal gedämpft oder mal als hellen Spot auf einzelne Sprechenden. Die vier ErzählerInnen, rechts und links hoch erhoben über der Szenerie platziert, sprachen die Tagesnachrichten und tippten sie wie RedakteuerInnen wild auf ihren Schreibmaschinen.

Von oben kommentierten die ErzählerInnen das Geschehen

Besonders bedrückend war die Stimmung, als ein junger Mensch vor seinem Tisch aufstand, leicht gebückt, und mit gleichgültigem Unterton sprach: „Ich habe nur getan, was ich tun musste!“ D. M. und A. K., als ehemalige KZ-Wächter nun angeklagt, ließen das Publikum verstummen. Die folgenden Zeugenaussagen verursachten eine schockierte und entsetzte Stimmung. „Ich hatte Gänsehaut und habe einen Stich im Herzen verspürt bei dieser Szene“, so eine Besucherin.

Diese wurde schnell wieder gebrochen, als der Sexualaufklärer Oswald Knolle, gespielt von A. V., seine Sonnenbrille in aller Ruhe aufsetzte, die Bühne langsam durch die Tischreihen durchschritt und Erika suchte (A. M.), um ihr bei ihren Eheproblemen mit einem offenen Gespräch zu helfen. Ohne diese Beratung folgte die Spielszene ein zweites Mal, die das Gegenteil zeigte, der Streit mit dem wütenden Ehemann (E.-M. H.) eskalierte und die Stimmen wurden lauter. Einige Lacher im Publikum, die Szene kam gut an.

„Hier ist keen Platz für Radikalinskis und für Radaubrüder och nich!“, verwies der breit berlinerisch sprechende Kellner D. M. die jungen Menschen am Ende aus seinem Lokal

Manchmal rief der schnelle Themenwechsel beim Publikum durchaus auch Verwirrung hervor, insbesondere in den ersten Szenen, bevor sich das Prinzip der szenischen Performance immer deutlicher herausbildete. Auch die Besetzung fiel nicht immer glücklich aus. So spielt L. sowohl den als Homosexuellen von der Gesellschaft verachteten Abraham als auch den frauen- und fremdenfeindlichen Proleten Paul mit Bierflasche in der Hand in verschiedenen, aber aufeinanderfolgenden Szenen. L.s Schauspielleitung war hervorragend, er stellte den verletzten, verzweifelt um Anerkennung kämpfenden Jugendlichen gekonnt und lebhaft dar, doch die fehlende Kostümierung ließ den Rollenwechsel für die Zuschauenden nicht klar erkennen.

Professionelles Feedback gab es während der Proben von Jürgen Beck-Rebholz

Alles in Allem war die Aufführung trotz kleiner Makel ein Erfolg. Es ist unbestreitbar, dass die SchülerInnen eine hervorragende Leistung vollbrachten und sie sind dankbar für diese besondere Gelegenheit, neue Erfahrungen auf einer echten Bühne zu sammeln. Viele ältere Zuschauende fühlten sich in die die Zeit ihrer Jugend zurückversetzt und konnten, im Gegensatz zu den Jüngeren, mit Fernsehsendungen wie „Bonanza“ und den Wolfsburger Jugendtreff „Kommode“ eigene Erinnerungen verknüpfen. „Das war etwas ganz Besonderes. Es schien, als wäre ich wieder Wolfsburger Schülerin in den 60er Jahren!“, berichtete eine Zuschauerin am Ende. Die Kooperation mit dem Scharoun Theater war ein Experiment, das mit den Vorgaben von Zeitfenstern, Kursgröße und Textvolumen zu kämpfen hatte, nicht wenige der Teilnehmende befürworten aber eine Fortsetzung der Zusammenarbeit.

Erleichterung beim verdienten Schlussapplaus

Text von Jana Burema mit Ergänzungen von Lenn Ehlers, Antonia Milder, Johanna Ollenschläger
Fotos: Aleksandar Nedelkovski